Radek Knapp, Der Gipfeldieb.
Kapitel 5 Ich weiß nicht, was mich juckte, zu »Odysseus, der melancholische Emigrant« zu gehen. Ich war kein großer Theaterfreund mehr. Früher ging ich wirklich ganz gern ins Theater, sogar lieber als ins Kino. Aber dann waren die Stücke irgendwie schlampig geworden und hatten angefangen, die Handlung zu vernachlässigen. Statt Dialoge zu führen, mussten die Schauspieler auf der Bühne lebendigen Hühnern nachjagen oder vollkommen nackt herumlaufen. Mit den Kinofilmen ging es ebenso abwärts, nur was es dort umgekehrt. Bei ihnen zählte nur noch die Handlung, und die Schauspieler hatten nur wenige Sekunden zwischen den Schießereien, um ihren Dialog anzubringen. Daher lieh ich mir lieber alte Schwarzweißfilme aus. Am liebsten Klassiker mit Audrey Hepburn oder amerikanische Komödien mit Rock Hudson. Dass ich schließlich doch zu »Odysseus, der melancholische Emigrant« ging, lag einzig daran, dass ich an dem Abend nichts zu tun hatte. Außerdem waren die Freikarten in der dritten Reihe und es ist immer faszinierend wenn man so nah an der Bühne sitzt und den Schauspielern zusieht. Man kann sehen wie sie beim Reden spucken und andere Peinlichkeiten passieren, die sie überspielen müssen. Ansonsten machte ich mir keine großen Hoffnungen. Odysseus, der melancholische Emigrant war sicher nicht viel anders als die üblichen Stücke. Doch als ich an dem Abend vor dem Theater stand, staunte ich nicht schlecht. Das Publikum strömte nur so in den Saal. Noch dazu war es wirklich bunt durchmischt. Neben den üblichen Abonnenten erschien eine beachtliche Menge an frischgebackenen Österreichern . Nachdem ich meine Karte vorgezeigt hatte, mischte ich mich unter die Leute, die in den Theatersaal strömten, und fand schnell meinen Platz. Ich saß in der dritten Reihe neben zwei Bauarbeitern aus Polen, die offenbar gerade erst vom Gerüst heruntergestiegen waren. Sie trugen noch ihre Arbeitskluft, und einer von ihnen roch stark nach Benzin. Ein paar Sitze weiter erblickte ich das türkische Ehepaar. Sie saßen still nebeneinander, wie im Wartezimmer, und wirkten ähnlich nervös. Um uns herum elegante Damen mit Perlenketten um den Hals, ältere Männer mit jungen gelangweilten Frauen und einige Intellektuelle, die offenbar die Neugier in die Premiere getrieben hatte. Vielleicht liegt es daran, dass ich so viel mit dem arbeitenden Volk zu tun habe, vielleicht leide ich auch einfach unter Minderwertigkeitskomplexen, aber es gibt eine Art von Intellektuellen, die mir nicht geheuer ist. Zwei solcher Exemplare saßen hinter mir. Sie unterhielten sich lautstark über das Emigrationsproblem: »Die Integration ist in unserer Epoche ebenso unentbehrlich geworden wie die Luft zum Atmen«, sagte einer, der Andere meinte: »Das Fremde ist uns in die Wiege gelegt worden, und alles Leben ist nur Zurückfindung.« Zugleich rümpften sie die Nase und schauten auf den kleinen Arbeiter vor ihnen, der den Benzingeruch verströmte. Der kleine Arbeiter versuchte sich noch kleiner zu machen, aber das nutzte nichts, weil sein Gefährte ihm immer wieder einen freundschaftlichen Rempler gab und mit einem Blick auf unsere Reihe sagte: »Für mich hat das Theater jetzt schon angefangen. Maurer aus Zakopane, Schafhirten aus Anatolien und Spargelpflücker aus Transsilvanien auf einem Haufen. So einen Stall kriegst du nicht mal auf dem Südbahnhof zusammen.« Der kleinere nickte vorsichtig wie ein Automat, der sich in einer Endlosschleife verfangen hat. Zum Glück ging dann das Licht im Saal aus. Die Gespräche verstummten, dann hob sich der Vorhang. Auf der Bühne erschien ein Gott. Und dann noch ein zweiter und dritter. Sie nahmen Platz auf einer Art Balkon und erklärten im Chor: »Ich bin Zeus, ich Poseidon und ich Ares. Ab jetzt haben wir auf alles ein Auge. Sogar auf das Publikum.« Das löste leichtes Gelächter aus, denn die Götter steckten in Anzügen und sahen wie Konzernbosse aus, die mit einem Anruf zweitausend Leute entlassen. Obwohl das den »Gegenwartsbezug« ein bisschen zu übertrieben herausstrich, war es trotzdem irgendwie witzig. Es lag an den Grimassen, die die Götter machten. Danach betraten weitere Schauspieler die Bühne. in modernen Klamotten. Zum Schluss erschien Odysseus, der just die Bauarbeiterkluft anhatte wie die polnischen Bauarbeiter. Das sollte zeigen, dass Odysseus nichts Menschliches fremd war und dass er das Leben aus persönlicher und jahrelanger Erfahrung kannte. Das Problem war nur, dass der Schauspieler, der ihn spielte, nicht älter als fünfundzwanzig war und das Gesicht eines Rasierschaum-Models besaß. Es fiel mir schwer, so einem Odysseus abzukaufen, dass er ein trojanisches Pferd gebaut haben sollte und überhaupt ein großer Feldheer war. Besonders unglaubwürdig wirkte, wie er sich dem Publikum vorstellte: »Ich bin der Herr von Ithaka, Sieger über Troja und habe zehn Jahre meines Lebens für einen Krieg geopfert. Und wozu das Ganze?« Er machte ein bedeutungsschwangeres Gesicht und fing an, seine Abenteuer zu bestehen. Während er von einem Desaster ins nächste schlitterte, gaben die Götter von ihrem Balkon herunter immer wieder ihren Senf dazu. Sie sagten zum Beispiel Sachen wie: »Dieser arrogante Schnösel will einer von uns sein? Wir werden ihm zeigen, dass er eine Null ist.« Und dann stellten sie ihn auf eine ihrer berühmten Proben. Manchmal warfen sie sogar merkwürdige Gegenstände auf ihn herab, zerknüllte Papierdokumente zum Beispiel, und Odysseus tat so, als wären es Steine, die ihn fast umbrachten. Im Mittelteil dann gab es doch auch ein paar spannende Szenen. Als seine Kameraden in Schweine verwandelt wurden, sagte Circe zu Odysseus, der sich schrecklich über diese Verwandlung ärgerte: »Ich habe sie nicht verwandelt, sondern ihnen lediglich ihre wahre Gestalt zurückgegeben.« Ein kleiner Höhepunkt war natürlich, als Odysseus bei Calypso landete. Sie sah wirklich blendend aus und war angezogen wie eine Edelprostituierte. Calypso wollte Odysseus die Unsterblichkeit schenken und ihn für immer bei sich behalten, was ziemlich großzügig von ihr war. Sie versprühte Charme und war überhaupt sehr geistreich. Leider machte Odysseus dabei ein Gesicht, als hätte sie ihm keine Unsterblichkeit, sondern einen drei Wochen alten Emmentaler angeboten. Er tat kund: »Ewiges Leben ist nichts als ständige Wiederholung. Und ich bin ein Sterblicher und werde es immer sein.« Er sagte das mit so viel Emphase, dass es sogar die Bauarbeiter ärgerte, die ohnehin schon auf der Seite von Calypso waren. Der größere flüsterte kurz zu dem Benzinmann: »Sie hat echt Klasse. Wie unsere Jola aus Ottakring. Und die Beine sind erstklassiges Solarium, sage ich dir. Dieses Nivea-Arschloch hat sie jedenfalls nicht verdient.« Am Ende fand Odysseus nach zwanzig Jahren sein Ithaka und betrat seinen eigenen Palast verkleidet als Bettler. Aber wo immer er hinging, war der Palast voller Freier, die um seine Penelope buhlten. Sie saßen überall herum, spielten Videospiele oder surften auf ihren iPhones. Der desorientierte Odysseus irrte in seinem Palast herum und fand sich nicht zurecht, weil es aussah wie in einem Media Markt. Da nahm er eine Axt und zerstörte alles, was er in die Finger bekam. Er haute wirklich so zu, dass die Scherben ins Publikum flogen. Und als er fertig war, begann er die Freier zu töten. Als er beim letzten ankam, sagte dieser zu Odysseus: »Warum tötest du uns? Wir haben dir nichts getan. Keinen umgebracht oder verletzt. Wir haben eine Strafe verdient, aber nicht den Tod.« Darauf erwiderte Odysseus: »Ihr habt versucht meine Welt zu stehlen, und darauf steht der Tod.« Dann erledigte er auch den letzten Freier. Das war die Szene, in der mir Odysseus am besten gefiel. Er war zum ersten Mal richtig bei der Sache. Besonders als er die Bildschirme zerstörte und mit der Axt herumwirbelte. Und das wäre ein perfektes Ende gewesen, wenn er sich den letzten Monolog verkniffen hätte. Aber er musste noch die Emigrantenkarte ausspielen: »Ich mag lange ein Fremder gewesen sein, aber meine Heimat war immer da. Ich musste sie mir nur erkämpfen. So findet jeder sein Zuhause«, verkündete er und verneigte sich. Er blieb so lange in dieser Verneigung, bis der Applaus ihn ereilte. Das Publikum klatschte wirklich mit Begeisterung. Der Beifall dauerte geschlagene fünf Minuten. Unsere Ausländerreihe klatschte auch wie verrückt. Besonders das türkische Ehepaar hatte einen Narren an dem Stück gefressen. Nach der Vorstellung wurde im Foyer noch Prosecco und kleine Häppchen gereicht, und es hieß, das Ensemble würde sich später auch dazugesellen. Ich spielte kurz mit dem Gedanken zu bleiben, aber dann müsste ich zusehen, wie Odysseus Gratulationen entgegennahm und sich von den Intellektuellen umschmeicheln ließ. Ich musste sowieso schon längst an die frische Luft. Es war ziemlich stickig geworden, besonders zum Schluss hatte ich richtige Beklemmungen gehabt. Als ich hinausging, bemerkte ich die beiden Intellektuellen, wie sie sich neben einer Marmorsäule Luft zufächelten und mit hochroten Köpfen miteinander diskutierten. Dann war ich schon draußen. Ich ging einfach so vor mich hin und beschloss die U-Bahn am Karlsplatz zu nehmen. Aber bis dahin war es noch ein Stück, und ich musste an das leidige Emigrationsproblem denken, das der eigentliche Grund für die Inszenierung war. Es war alles ziemlich verfahren, wenn man es genau betrachtete. Die Behörden in ganz Westeuropa bemühten sich recht ordentlich, die Fremden zu integrieren. Was eine honorige Sache war und überhaupt in bester humanistischer Manier. Aber alle wunderten sie sich, dass das gar nicht so klappte, wie es sollte. Der Westen hatte gute Absichten, er übersah nur einen Punkt. Dass es keinen Emigranten auf der Welt gibt, der sich selbst als Emigranten sieht. Jedenfalls hatte ich noch keinen getroffen, der beim Friseur sagte, schneiden Sie mir meine Emigrantenhaare, oder der den Zahnarzt anflehte, ihm die Emigrantenzähne schmerzfrei zu verplomben. Haare sind Haare und Zähne Zähne. Das große Geheimnis dahinter war: Kein Emigrant will verstehen, dass seine Heimat ein für alle Mal verloren ist. Selbst wenn man ihn grillte, wäre er überzeugt davon, irgendwann einmal dorthin zurückzukehren. Emigranten fühlen sich nie wohl in der Gegenwart, halten Ausschau nach der glücklichen Rückkehr, die irgendwann in der Zukunft stattfinden wird. So gesehen war Odysseus clever, sich auf die Prüfungen der Götter zu konzentrieren. Er hätte sonst nie zurückgefunden, hätte er die ganze Zeit Ithaka nachgeweint. Von Hindernis zu Hindernis zu denken war der einzig richtige Weg. Und dass er am Ende diesen Media Markt kurz und klein geschlagen hat, war klüger, als es aussah. Denn wenn das so weiterginge, würden die Leute bald in ihren eigenen vier Wänden zu Emigranten werden, weil sich alles wie in Odysseus Palast in einen Media Markt verwandeln würde Kurz vor dem Karlsplatz tat ich plötzlich etwas Ausgefallenes. Ich ging von einer Bank zur anderen und stellte mir vor, es wäre eineStation der Prüfungen, die die Götter mir auferlegt hatten. Die erste Bank war die Entführung nach Wien, die zweite die schreckliche HAK, die mich fast in den Wahnsinn getrieben hätte. Und so ging es weiter und weiter. Ich berührte jede Bank, wie im »ich hab dich«-Spiel, bis ich alle Bänke berührt hatte. Dann drehte ich mich um und betrachtete die lange Reihe von Holzbänken, die die Stadtverwaltung für erschöpfte Touristen aufgestellt hatte, und kam mir vor, als hätte ich über das Schicksal gesiegt. Denn genau das war das Problem: Niemand maß heute den Hindernissen dieselbe Bedeutung zu, wie Odysseus es noch getan hatte. Für uns waren es nur alltägliche Probleme, die gelöst werden mussten. So bekam am Ende niemand seinen Lohn von den Göttern, sondern nur eine Gehaltserhöhung. Vielleicht war es das. Vielleicht lag das Problem aber auch darin, dass es keine Götter mehr gab, die uns das Leben schwermachten. Das erledigten wir alles selber. Kein Wunder, dass alle so mürbe waren. Wenn man alles selber macht, dreht man früher oder später durch. (Mit freundlicher Genehmigung des Schriftstellers) |